2009 esslinger zeitung: stadt im fluss

2009 esslinger zeitung: stadt im fluss

1024 682 Petra Pfirmann

ESSLINGEN 21.09.2009

„Man muss sich einfach treiben lassen“

ESSLINGEN: Bei der dritten Auflage von „Stadt im Fluss“ präsentiert sich die lokale Kulturszene mit schillernden Facetten

Von Iris Koch

Foto: Roberto Bulgrin

Ein besonderer Zauber lag über der Stadt: Drei Tage lang zog das Kulturfest „Stadt im Fluss“ das Publikum in seinen Bann. Neben der Stadtinszenierung am Freitag und Samstag gab es Kunstwerke und Installationen an öffentlichen Plätzen oder in versteckten Winkeln zu entdecken. In Kirchen, Parks und Gewölbekellern wurde gepflegt musiziert, froöhlich gesungen oder heftig abgerockt. Ob poetisch oder skurril, gesellschaftskritisch oder märchenhaft – bei der 3. Auflage von „Stadt im Fluss“ präsentierte sich die Kulturszene in vielen schillernden Facetten. Ausgerüstet mit Plänen und Programmen schwärmte das Publikum aus, um die Attraktionen der „Stadt im Fluss“ zu erkunden. Doch wer strategisch nach Plan vorgehen wollte, musste vor der Vielzahl von Angeboten und einer gewissen Unübersichtlichkeit des Programmheftes kapitulieren. Sich einfach treiben lassen lautete somit die thematisch passende Parole des Tages – die so mancher Besucher nach ausgiebigem Blättern und Studieren schließlich befolgte. „Irgendwas verpasst man immer“, gab sich ein Gast aus Tübingern geschlagen – „aber faszinierend ist es trotzdem“, schob er gleich nach.
Einige überraschungen warteten beim „Stadtparcours mit Boot“ auf das Publikum. Bei der Aktion im Rahmen des Kunstprojektes „Acqua Minerale“ hieß es anpacken und mitmachen. Beim „Bootsrennen“ etwa musste das Boot um den Postmichelbrunnen getragen werden; später wurde italienisch gepicknickt und gesungen. Nach anfänglicher Scheu ließen sich an unterschiedlichen Stationen etliche Passantinnen und Passanten auf das Experiment ein, das drei Künstlerinnen und Künstler des Vereins artgerechte Haltung Bildender Künstler Esslingen konzipiert hatten. Inspiriert von Joseph Beuyss Idee der „Sozialen Plastik“ wolle man Begegnungen von Menschen initiieren, erläuterte Claudia Bohnenstengel.
Auf ein schwankendes Schiff konnte man sich in der witzig-grotesken Videoinstallation von Verena Seibt und Clea Stracke im Beinhaus der ehemaligen Allerheiligenkapelle des Stadtarchivs versetzt fühlen. Im „mobilen Brunnen“ des Künstlers Roman Signer floss das themengebende Nass aus einem umgedrehten Kajak auf dem Autodach. Den alltäglichen Wahnsinn der Wasserverschwendung nahmen Rosy Albrecht und Susanne Parth in der Tiefgarage am Marktplatz aufs Korn: Die poppig bunte Videoinstallation zeigt das skurril inszenierte Ritual der Autowäsche, bei der das kostbare Nass aus Mineralwasserflaschen aufs „heilige Blechle“ geschüttet wird.
Energie aus fließendem Wasser wurde bereits in vergangenen Jahrhunderten gewonnen. Das historische Wasserrad am Lorch-Areal konnte man sich von den Betreibern Roland Merlau und Bernd Spielmann erläutern lassen. Nostalgisch ging es auch an der Cinebar des kommunalen Kinos auf der Maille zu: Dort war eine Filmreise durch 100 Jahre Esslinger Geschichte zu sehen.
„Kulturräume“ eröffneten sich an gewohnten und ungewöhnlichen Orten der Stadt – und es galt stets in Bewegung zu bleiben. In der Maille fetzte auch Eric Gauthier mit seiner Rockband über die Open- Air-Bühne. „Das ist wie ein Sommernachtstraum“ genoss der Ex-Solist des Stuttgarter Balletts und Chef der Kompanie „Gautier Dance“ die Atmosphäre. Wilde Rhythmen der Band Les Trucs klangen auch von „unterhalb des Wasserspiegels“ aus der Unterführung. Am Kesselwasen spielte das Esslinger Jazz- Projekt auf.
Wer es besinnlicher angehen lassen wollte, besuchte das Nachtkonzert in der Stadtkirche: Bei Kerzenschein spielten Christof Neundorf (Violoncello) und Hanna Schüssler (Truhenorgel) Werke von Bach.

Mystische Atmosphäre empfing die Nachtschwärmer im Münster St. Paul. Auf den Videoinstallationen am Gemäuer ließ Petra Pfirmann archaisch-futuristische Bilder entstehen und vergehen; begleitet von ätherischen Klängen des Kirchenmusikers Felix Muntwiler. Rote und grüne Tropfen umschwebt wie blutige Tränen Figuren von Königen und Gekreuzigten und ließen scheinbar weinende Bären dahinschmelzen.

Ob Wasser blau sei fragte sich im Lima-Theater der Videoclip-Künstler Harald Rettig bei seiner Live- Performance. Ob Esslingen einst am Meer lag, wurde im Keller der Marinekameradschaft Tsingtau mit Hilfe des Shanty-Chors und elektronisch-hypnotischen Klängen erkundet. Piratenlieder gaben in der Webergasse die Galgenstricke zum Besten – und kündigten zu später Stunde das authentische Stadt-im- Fluss-Erlebnis an: „Jetzt wird der Keller geflutet“. Bei Wasserrauschen, Möwenschreien, Schiffshupen und immer dunkler werdender Beleuchtung fühlte man sich tatsächlich untergehen – und saß am Ende zum Glück noch im Trockenen.
Hoch zufrieden zeigte sich am Ende Kulturreferent Peter Kastner. Insgesamt hätten schätzungsweise 20 000 Menschen das Festival besucht, „darunter viele Auswärtige“. Bei so vielen Veranstaltungen sei es schwer, den überblick zu bewahren, räumte Kastner ein – doch davon habe sich niemand stressen lassen: „Beim Bummel durch die Gassen herrschte überaus friedliche, manchmal fast euphorische Stimmung.“ Esslingen habe sich als Kulturstadt von einer wunderbaren Seite präsentiert – und man strebe eine Neuauflage von „Stadt im Fluss“ in zwei Jahren an.