Dr. Michael Kessler
langzeit: ARBEITET.
Zur Eröffnung der Ausstellungseröffnung 3. November 2005
langzeit: ARBEITET. So überschreibt die Esslinger Künstlerin Petra Pfirmann diese Ausstellung; meine Damen und Herren, ich grüße Sie. Langzeit arbeitet: Das klingt eigenartig. Eigenartig und – wie ich meine – verstörend. Verstörend, weil da zwei Begriffe miteinander verbunden oder zumindest in Beziehung gebracht werden zueinander, die umgangssprachlich eher nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Man hat heute andere Assoziationen, wenn man das erste Wort hört: Langzeit. Damit bringt man nicht automatisch Arbeit in Verbindung, sondern eher das Gegenteil: nämlich keine. Also den Mangel an Arbeit und dessen Folgen: die Arbeitslosigkeit. Von Langzeitarbeitslosigkeit ist daher die Rede; Langzeitarbeit hingegen, das glaubt man zu wissen, ist etwas, das der Vergangenheit angehört. Vielleicht ist es auch eben dies, also die Langzeitarbeitslosigkeit – und nicht die Arbeit – was an Orten wie diesem, in Agenturen für Arbeit, heute ge-handle-t werden muss, ob man will oder nicht; ge-handle-t – oder soll man sagen: behandelt?
Das Wort behandeln lässt dabei ans Gesundheitswesen denken; der Anglizismus vom ‚handling‘ erinnert an Umgangssprachliches von der Art, man werde oder könne das schon irgendwie schaukeln oder auf die Reihe bringen. Fragt sich, auf welche? Fragt sich weiter, ob auf die Reihe oder um die Ecke. Damit man’s nicht mehr sieht, zum Beispiel: aus den Augen, aus dem Sinn. Die medizinische Assoziation scheint nahezulegen, dass es sich bei dieser besonderen Art der Arbeitslosigkeit um etwas zu Kurierendes handelt, also mit anderen Worten: um ein Krankheitsphänomen, vielleicht sogar um eine Volksseuche, zumal eine deutsche. Da braucht es eine Radikalkur – ohne Rücksicht auf Verluste, so hört man nicht selten sagen. So oder ähnlich jedenfalls handeln die Lordsiegelbewahrer gegenwärtiger Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie das Thema der Langzeitarbeitslosigkeit ab, ein Thema und Problem, an dessen Aufkommen sie und ihre ökonomischen Gefolgsleute alles andere als unbeteiligt sind. Nicht unbeteiligt, sondern beteiligt: freilich vermittels eines anderen, eines recht geschäftstüchtigen Mangels an Rücksicht auf Verluste. Was daran bislang als unerwünschter Nebeneffekt einer angeblich unumgänglichen Globalisierung behandelt wurde, erscheint inzwischen als Gewinn. Von Freistellung und Freisetzung kann man hören und davon, was das Ende der Arbeitsgesellschaft an Positivem bringe, welche Spielräume es eröffne und davon, wie neulich ein Prediger sich nicht zu vertreten entblödete, dass der Mensch sowieso nicht vom Brot allein lebe. Auf diese Weise ist es geradezu schick geworden in einem Land, das bis vor kurzem seinen Stolz noch darein setzte, nicht nur reich und tüchtig zu sein, sondern auch sozial, sich bei solchen Fragen nicht mehr länger aufzuhalten. Es gilt als anrüchig, und es ist verpönt. Unsere selbsternannten Sozialphilosophen vom Schlage eines Hans Olaf Henkel und seine ökonomischen und politischen Parteigänger rümpfen die Nase und empfehlen Deodorants gegen den vor allem von ihnen selbst allenthalben konstatierten Elends- und Ludergeruch.
Ich kann das alles hier nicht vertiefen, und ich bin auch kein Experte für solche Fragen. Aber man muss auch kein Experte sein, wenn einem dabei die Frage aufstößt, nicht wovon – wie immer gesagt wird, sondern wofür Menschen leben und arbeiten. Ich persönlich glaube jedenfalls nicht, dass sie für die Wirtschaft leben, und ich glaube mehr und mehr zu erkennen, dass sie von der Wirtschaft erst recht nicht leben. Arbeit, so scheint es, brauchen die Menschen. Wer sie darum bringt oder betrügt, der bringt sie um, und zwar in mehrfacher Bedeutung des Wortes: um ihre Würde, um ihre Rechte, um ihre Freiheit, um ihre Existenz oder, in letzter Konsequenz: ums Leben. Also um all das, von dem gesamthaft unser Grundgesetz sagt, es sei unantastbar. Müssen sie sich, müssen wir uns das gefallen lassen? Mir jedenfalls scheint, es gibt so gut wie nichts, was einem daran gefallen könnte. Mir scheint auch, das darf einem nicht gefallen. Vielleicht muss man den Spieß umdrehen und sagen: wer daran Gefallen findet und solches empfiehlt, dem können, denen dürfen wir nicht länger mehr Gefälligkeiten erweisen. Und die, die keine Wahl haben, brauchen solche auch nicht zu wählen.
langzeit: ARBEITET. Ich verstehe den Ausstellungstitel der Petra Pfirmann auch vor diesem Hintergrund, also als eine Art These und Behauptung, als eine Art Ein- und Widerrede. Sowohl ihre Biographie, erst recht ihr – wenn ich das mal so nennen darf – bürgerschaftliches und ihr künstlerisches Engagement deuten darauf hin. Sie hat einen Ausbildungsberuf erlernt und als Weberin gearbeitet. Ihr künstlerischer Werdegang steht damit ursächlich-urprünglich in enger Verbindung. Die kunst- bzw. gestaltungstherapeutische Arbeit von Petra Pfirmann dient dem Zweck, Kindern und Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen Kommunikationsschwierigkeiten haben, bei deren Überwindung zu helfen und sie durch spielerische und gestalterische Mittel der Selbst- und Gemeinschaftserfahrung zu stärken, sie damit zugleich kommunikationsfähig und dialogbereit zu machen. Und auch in ihrer künstlerischen Arbeit im eigentlichen Sinn ist ein starkes kultur- und sozialkritisches Interesse zu beobachten.
Immer spielt in der künstlerischen Arbeit der Petra Pfirmann die Bemühung eine Rolle, die Ichzentriertheit, die Egozentrik, das narzisstische Kreisen um sich selbst in Frage zu stellen und zu überwinden und den Menschen zu helfen, durch Erlernen von Achtsamkeit, Respekt und Rücksichtnahme zu einer realistischen Einschätzung ihres Größenverhältnisses und ihrer Bedeutung in einem größeren Zusammenhang zu finden. Früher hätte man gesagt, es gehe ihr um die Stellung des Menschen im Kosmos. Dazu gehört die Natur, die Schöpfung, aber auch der Umgang mit ihr und die Achtsamkeit für sie; dazu gehört aber auch die Achtsamkeit für die von Menschen hervorgebrachte, von ihnen geschaffene Um- und Mitwelt, und das Verhältnis, in dem beides zueinander steht und miteinander in Interaktion tritt – und die Aufmerksamkeit darauf. Aus diesem Grund stellen, wie die Künstlerin selbst sagt, „Arbeiten mit Schwingendem, Fließendem, Festem, mit Tönen und Klängen“ den „zentralen Inhalt ihres Schaffens dar“, und zwar sowohl auf den Gebieten der Malerei im engeren Sinn, als auch im Bereich von Fotodokumentationen und Installationen. Dazu gehört gerade, als Quelle eigener Inspiration und Wahrnehmungsdifferenzierung, auch die Zusammenarbeit mit Musikern: „Klang“, so sagt die Künstlerin, „hält die Welt zusammen und eint“. Ähnlich formulierte dies der frühere SWF-Musikredakteur und Jazzpapst Joachim Ernst Behrendt: „Die Welt ist Klang“. Mit anderen Worten: Klang ist nicht nur auf der Welt; er ist in der Welt, in ihr drin, und zwar in allem. Das gilt für Töne, Stimmen und Geräusche. Es gilt aber auch für Empfindungen, Stimmungen, Gefühle. Und es gilt schließlich auch für Farben und Materialien. In all dem kann man, konsonant mit und dissonant zu sich selbst, Takt finden und Maß gewinnen.
langzeit: ARBEITET. Mit solchen Dingen haben die in der Ausstellung gezeigten Werke und Dokumentationen, mit solchen Dingen hat die künstlerische Arbeit der Petra Pfirmann zu tun. Ihr besonderes Interesse gilt Prozessen und Strukturen des Werdens und Vergehens. Gerade in ihren Fotoarbeiten vom Otto-Areal, einer Wendlinger Industriebrache, wird dies deutlich. „In der Fotografie“, so sagt die Künstlerin, „beschäftige ich mich mit der Struktur der Vergänglichkeit. Festgehalten werden Flächen oder Objekte, die der Zeit, dem Einfluss von Luft, Wasser, Wind und Wetter, von menschlicher Benutzung, physikalischer Reibung ausgesetzt waren“, Flächen oder Objekte, die „einmalige, individuelle Zeitdokumente“ darstellen und eine „ästhetisch interessante Flächengestaltung“ aufweisen: „Die Spuren, herausgerissen aus ihrem Kontext, zeigen überraschende Bildhaftigkeiten.“ Es geht also um die Untersuchung schöpfungsimmanenter Prozesse, um Beobachtung der „absichtslosen Absichten nicht manipulierter Vorgänge“, um das Erspüren der Dynamik (= Mächtigkeit) von Verfall und Wachstum in Natur und Kultur, mit anderen Worten, in von Menschen gemachter und von Menschen aufgegebener (Um)Welt, in der nicht nichts geschieht. Es geht um so etwas wie eine Topographie, eine Chrononlogie und eine Anatomie von Verfall und Wachstum in Natur und Umwelt: Topographie steht für Ortsbeschreibung und Sicherung; Chronologie steht für den Zeitverlauf – genannt „langzeit“; Anatomie steht für das Herauspräparieren und Sichtbarmachen der Wirkkräfte durch Zerlegung eines undurchschaubaren Gesamtphänomens in ästhetisch eindrückliche Bildformen, gleichsam um zu zeigen, um sichtbar zu machen, dass und wie langzeit: ARBEITET.
Damit gegeben ist zugleich die Einbeziehung kultur- und gesellschaftspolitischer Probleme in die künstlerische Arbeit. Aber eben nicht plakativ oder durch Anbringung von Schildchen für wahres oder falsches Bewusstsein, sondern durch Beobachtung und Dokumentation: das heißt, durch ein nachvollziehbares, nachprüfbar-kontrolliertes, nicht beschleunigendes, sondern verlangsamendes Verfahren. Das mag gemütlich klingen, ist es aber nicht. Also ungemütlich.
Ungemütlich: Es gehe ihr nicht gut, wenn sie arbeite, bemerkt Petra Pfirmann im Gespräch. Vieles „entsetzt“ sie. Der Übergang vom vermeintlich Geordneten ins Chaotische, von der Struktur zum Verfall und vom Chaotischen in neue, unbekannte Formen der Organisation und Reorganisation hat für die Künstlerin – und vielleicht nicht nur für sie – etwas Erschreckendes und Verstörendes. Offenbar ist noch nicht heraus, worauf es mit dem von Menschen Gemachten und mit den Menschen selbst hinaus will. Wer meint, die Richtung, die Ziele und Lösungen zu wissen und zu kennen, der täuscht sich womöglich. Wer auf rasche Antworten und Auskünfte drängt, der muss unter Umständen die erschreckend-verstörende Beobachtung machen, dass komplizierte und ambivalente Prozesse durch solche Beschleunigungen erst recht unbeobachtbar und unanschaulich werden. Sie hören aber deshalb nicht auf. Sie gehen weiter. Sind es Prozesse, die Neues erzeugen? Neues im Sinne von neuer Wertigkeit, im Sinne von Fortschritt. Oder sind es Prozesse der Auflösung, der Degeneration? War das Kultur, was sich nun die Natur zurückerobert und zurückholt? Oder sind das – womöglich neue – Vorgänge einer Kultivierung: aber von was?
Offenbar geht es der Petra Pfirmann, trotz fotografisch-reproduktiver Exaktheit, nicht um Wiederholung von etwas, was es eh schon gibt. Es geht nicht, jedenfalls nicht nur um Abbildung von Sichtbarem. Es geht ihr wohl eher um ein kontrolliertes, verlangsamt-genaues Hinsehen auf eine irritierende und faszinierende Objektwelt in ihrer eigenen und eigentümlichen Mächtigkeit und Dynamik. Einer Welt, die aus einer unbekannten, vielleicht auch undeutbaren Ordnung von Zeichen besteht, einer nicht auflösbaren Mischung von Natürlichem und Künstlichem. Einer Welt, die sich zugleich als Gegenwelt zur Erscheinung und zur Geltung bringt. Aber genau das, eine deutungslos bleibende Zeichen- und Gegenwelt ist, wie das unvereinnahmbare Göttliche, gerade beides: furchterregend und bezaubernd, betörend und verstörend, schön und schrecklich, schaurig schön.
langzeit: ARBEITET. Die Prozesse, die auf den Fotos vom Wendlinger Otto-Areal in Erscheinung treten, haben unterschiedliche Ursachen. Manchmal anorganische, wie Ausblühungen, Versinterungen, Tropfsteinbildungen, Rostablagerungen usw., die vor allem durch die Einwirkung von Wasser entstanden sind. Manchmal organische, etwa durch so genannte Ruderalpflanzen oder durch Flechten, Algen Moose. Manches kommt auch durch Gift, chemische Substanzen, die einmal im Arbeitsprozess eine Rolle gespielt und sich inzwischen wirkend verselbständigt haben. In der Biologie überhaupt ist das Phänomen der Rudimentation bekannt, also der Rückbildung von Organen, die nicht mehr gebraucht werden. Überlange Tigerzähne, übergroße Hirschgeweihe. Entweder sterben die damit Behafteten aus, oder die Evolution besinnt sich noch rechtzeitig auf etwas anderes. Gibt es das auch im übertragenen Sinn? Rückbildung von Strukturen, die nicht mehr gebraucht werden? Eine Frage am Rand: hat das auch etwas mit dem Themenkomplex von Langzeit und Arbeit zu tun?
Rückbildung von Strukturen: Unter dem Einfluss von Wasser passiert so etwas Ähnliches häufig. Manchmal arbeitet da etwas langsam, fast unmerklich, durch „steten“, den Stein höhlenden Tropfen etwa. Da geht etwas kaputt, zerfällt, verfällt; eine Struktur wird verändert, zerstört. Aber an ihre Stelle tritt nicht nichts. Etwas anderes bildet sich, entsteht; manchmal dauert das, wie bei den Tropfsteinhöhlen, Jahrzehntausende. Aber dann staunen wir. Manches, was so entsteht, ist, wie die Bodenaufnahmen, die Wand- und Detailbilder der Petra Pfirmann zeigen, virtuell und reell zugleich. Ästhetisch schöner, als alles, was man sich kreativ vornehmen könnte als Malerin. Und so reell, wie der Schimmel auf einer Frucht. Entsteht, organisiert sich da Neues?
langzeit: ARBEITET. In ihren „künstlerischen“ Arbeiten im engeren Sinn, also da, wo Malerei und Bildträger im Spiel sind, bildet Petra Pfirmann gleichsam Versuchsanordnungen für ähnliche Prozesse nach. Sie lässt Wasser, Tee, Kaffee, Feuer, Rost für sich arbeiten, um zu Bildern zu gelangen, deren Materialzustand zunächst beunruhigend chaotisch anmutet, auch für sie selbst. Dem arbeitet sie dann entgegen, indem sie gleichsam experimentiert durch Aufbringung von strukturbildenden Ordnungselementen, z. B. Kreuzen, Linien, Kreisen oder Quadraten, häufig in Form von Wiederholungen. Ob dadurch Ordnung entsteht, eine Bändigung des Irregulären aber Mächtigen, ist nicht sicher. Das Chaotische wird nicht verdeckt oder versteckt. Mitunter siegt es über die Form, in die es zu bringen versucht wird; mitunter gehorcht es ihr, ohne sich ihr preiszugeben.
Gewissermaßen eine neue Dimension des künstlerischen Prozesses erreicht die Pfirmann mit ihrem wohl jüngsten Werk, von dem die im Raum verspannten Tücher stammen. Es entstand im Sommer diesen Jahres in Esslingen, im Rahmen eines städtischen Kulturfestivals namens „Stadt im Fluss“ und hatte den Charakter einer Gestaltung in der Natur. Oder war es eine Gestaltung „mit“ der Natur, um ein Stichwort Cézannes aufzugreifen? Als zu gestaltende Fläche wählte die Künstlerin für eine gemeinsam mit ihrer Ateliernachbarin Ade Weeth zu realisierende Installation, einen Kanal, der an den Ateliers der beiden vorbei fließt. Zu gestalten war also eine in unterschiedliche Richtungen unkontrollierbar sich bewegende Fläche: bekanntlich, das wissen wir seit den alten Griechen, kann ja keiner zweimal in denselben Fluss steigen. So auch hier. Der Fluss, von dem die Rede ist, ist übrigens selber künstlich: nämlich ein Kanal, also so etwas wie eine Ableitung von Fluss, dazu noch zweckgerichtet – dafür sagt man auch funktional. Der Kanal hat schon immer gewerblichen Zwecken gedient, früher für Gerbereien und Färbereien, später für die Erzeugung von Strom. Pfirmanns Teil der Installation bestand aus 72 Quadraten aus Nesselstoff, die miteinander verbunden wie ein Netz im Wasser lagen, also einer nicht unbeträchtlichen, mitreißen wollenden Strömung ausgesetzt und dem Auf und Ab des Wassers samt seinen Strudeln und Wirbeln; dazu hin den Attacken durch Treibgut welcher Art auch immer; und schließlich noch dem, was die Menschen so dazutun, hinein leiten, hinein werfen, hinein fließen lassen, und so weiter: das reißt nicht nur, das färbt nicht bloß, das riecht auch. Die Künstlerkollegin Ade Weeth hatte dazu, im Kontrast zu den 72 verspannten Tüchern, einen bunten Mittelstreifen aus dünnem Metallgewebe implantiert und damit verbunden. Schon die Einbringung dieser „Plastik“ ins Wasser hatte den Charakter einer konzertierten Aktion und „sozialen Plastik“ im Sinne des Josef Beuys. Denn diese Platzierung der Plastik im Kanal stellte eine enorme Herausforderung dar nicht nur für die Künstler, sondern auch für die dazu notwendigen, daran beteiligten Helfer. Und zwar eine bisweilen durchaus riskante, ja gefährliche Herausforderung, waren sie dabei doch den Elementen unmittelbar ausgesetzt, in mehrfacher Bedeutung des Wortes. Nicht minder „ausgesetzt“ war aber schließlich dann auch die Installation selbst, die über zehn Tage im Wasser verblieb. Die Künstlerin schildert das wie folgt: „Täglich bot sich ein anderes Bild, Teile rissen sich von anderen los und veränderten so die Spannung des ganzen Gebildes, das sich in seiner Dynamik zueinander und dem Wasser gegenüber verändern musste. Die ursprünglich uniformen weißen Tücher bekamen durch hängen bleibende Algen und andere Partikel unterschiedliche Färbungen und Schattierungen, zunehmend eigene Gesichter. Man kann sagen, dass sie im Ausgesetztsein der Natur, also einer höheren Macht, zu einer eigenen unverwechselbaren Identität gelangt sind, ganz ohne menschliches Zutun. Mittlerweile sind die Tücher wieder aus dem Wasser geborgen, hingen im Atelier zum Trocknen und brachten dabei auch den Geruchssinn ins Spiel.“ Soweit die Künstlerin. Inzwischen wurden diese Tücher nun hier wieder verspannt, also zu einer Installation an Land verarbeitet; vielleicht noch nicht zur letzten; da wären noch andere Anwendungen denkbar. „Der Prozess der totalen Auflösung wurde unterbrochen“ – so kommentiert die Künstlerin den Vorgang – „die Tücher (sind) in ihrem momentanen Zustand erhalten, vielleicht gerettet. Sie werden in einem geschlossenen Raum geschützt werden, der jetzige Ausdruck versiegelt und nur durch die Augen der Zuschauer vor der Stagnation bewahrt. Ich wünsche mir hierfür ein Umfeld, in dem die Menschen Führung finden, wenn sie den Mut aufbringen, die Gedanken zu den zentralen Themen unseres Lebens treiben zu lassen, die sich um Werden und Vergehen drehen“. Soweit Petra Pfirmann.
langzeit: ARBEITET. Neu verspannt, geschützt in einem geschlossenen Raum, im jetzigen Ausdruck versiegelt, den Augen der Betrachter ausgesetzt finden wir die Tücher nun also hier in einer anderen Installation. Vielleicht in einer Art „Zwischenlager“ – oder sollen sie bleiben? Auf alle Fälle werden es auch hier nicht nur deutende Augen sein, die auf diese Tücher blicken, erst recht nicht nur wissend-verständnisinnige. Manche werden ratlos sein, andere gleichgültig, manche zornig; abweisende Blicke wird es geben, ablehnende, gelangweilte oder in sich gekehrte, in sich versunkene, was noch? Vielleicht kommt zu den Verschmutzungen und Verletzungen, die das Wasser und seine Ingredienzien an den Tüchern bewirkt haben, dadurch noch manches hinzu, von dem wir jetzt noch nichts wissen; gleichsam Verschmutzungen oder Benutzungen durch Prozesse geistig-gemütlich-emotioneller Art und Vernetzungen mit neuen Gedanken, Einsichten, Empfindungen. Dazu könnte auch solches gehören, was die Künstlerin wünscht: Gedanken zu den zentralen Themen, zu Werden und Vergehen, hoffentlich auch zu Sein und Bleiben. Vielleicht werden dadurch Kräfte wach gerufen, Energien geweckt für Veränderungen. Vielleicht werden Empfindungsqualitäten spürbar, die sonst verborgen bleiben, oder Beobachtungen gemacht, für die es Zeit braucht; vielleicht wird Verschüttetes frei, Verlorenes wieder auffindbar, Verdrängtes bewusst, Abgestorbenes lebendig. Wer weiß? langzeit: ARBEITET.
Die Künstlerin hat keine Lösungen für die eingangs genannten Fragen und Probleme der Arbeit und der Arbeitswelt. Sie nicht – und ich auch nicht. Sie will, wenn ich sie recht verstehe, aber nicht vertrösten, etwa nach dem Motto „Gut Ding will Weile haben“. Eher schon ist sie untröstlich. Nichtsdestoweniger meint sie wohl, dass man den Ratschlägen und Rezepturen, die schnelle Lösungen und Heilungen versprechen, nicht unbedingt trauen kann. Hier nicht – und wohl überhaupt. Vielleicht ist in allen Dingen – zumal bei solchen von höchster Priorität, von aufdringlichster Wichtigkeit und Brisanz – unsere Eile, mit ihnen ans Ende zu kommen, von mir aus auch ans gut gemeinte, grundsätzlich riskant. Aber das ist kein metaphysischer Ratschlag, auch kein sozialpolitischer, und erst recht kein eschatologischer, also mit Diesseitsflucht und Jenseitstrost. In ihren Ausstellungsprospekt – und in manche ihrer Werke hinein – bei letzteren kompliziert verteilt, hat die Künstlerin so etwas wie einen Fließtext geschrieben: nämlich Heinrich Heines Gedicht von den Schlesischen Webern, von denen da gesagt wird, sie webten – „im düstern Auge keine Träne“ – Deutschland sein Leichentuch mit hineinverwobenem dreifachem Fluch: Fluch dem Gott, Fluch dem König, Fluch dem falschen Vaterlande, wie es darin weiter heißt und erläutert wird; und sie weben und weben. Auch hier also wohl: langzeit: ARBEITET.
Das Gedicht von den schlesischen Webern ist durchaus „marxistisch“, wenn man so will. Derselbe Heine überschrieb die Zusammenstellung seiner Gedichte eines ganzen Jahrzehnts, nämlich die „Zeitgedichte“ von 1843 mit einem Gedicht, dem er den Titel „Doktrin“ gab – will heißen: Lehre. Es eröffnet den Zyklus seiner politischen Verse: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“ – so hebt es an; „trommle die Leute aus dem Schlaf“ – das „ist die ganze Wissenschaft“, das sei „der Bücher tiefster Sinn“. Heines „Doktrin“ – nicht nur das Gedicht, sondern seine „Lehre“ als ganze – ist ein Aufruf zum Kampf für eine neue Welt. Mit Jugendkraft muss die „Reveille“, der Weckruf des Dichters erklingen, der immer wieder voranzuziehen hat, um die Schar der morgendlich erwachten Menschen anzufeuern. Solche Botschaft und Aktion „ist die ganze Wissenschaft“; jener Wissenschaft, die sich erfüllt und ihr Ziel findet im Kampf, im Eintreten für jene wahre Welt der Humanität, wie sie in den Utopien der größten Denker, von Platon bis Morus bis Kant bis Hegel anvisiert und entworfen worden war. Aber einmal ist sie vorbei, die Zeit der Utopien: jetzt. Jetzt ist Kairos: Jetztzeit und Gelegenheit. Gelegenheit für die reale Verwirklichung jener neuen Humanität, die nicht automatisch kommt, die nicht von selbst vollendet wird oder durch irgendeinen „Weltgeist“ hüben oder drüben, gar droben, wie Heine nicht grundlos spottet angesichts einer „Heiligen Allianz“, die sich dagegen verschworen hatte – fast meint man, er spräche von heute oder für heute! Nicht der Weltgeist wird es richten, sondern es ist diese Verwirklichung der neuen Humanität als Aufgabe zu bestimmen, die von den Menschen selbst erkannt und realisiert werden muss. Damals, und bis auf den heutigen Tag. „Das Leben ist weder Zweck noch Mittel“, schreibt derselbe Heine, „das Leben ist ein Recht. Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revolution.“ Die Einreden der moralischen, religiösen, politischen Vergleichgültiger sollen, wie Heine formuliert, „unsere Energie nicht lähmen bei diesem Geschäfte“; der Fortschrittsoptimismus, der über Leichen geht, soll weder ablenken von den „Interessen der Gegenwart“ noch die Chance bekommen, das „Recht zu leben aufs Spiel zu setzen“. 1844 erhält der Dichter Heinrich Heine in Paris Besuch von dem Dr. Karl Marx aus Trier. In Paris erscheinen, von diesem herausgegeben, im gleichen Jahr die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“. Es gibt nur einen Band. Er enthält die berühmten Aufsätze des jungen Marx zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und zur Judenfrage. Und er bringt den Erstdruck von Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“. Darin unsterbliche Verse. Auch die von der Suche nach verbotenen Büchern beim Grenzübertritt nach Deutschland „im traurigen Monat November“ durch den preußischen Zoll, über den der Dichter sich mokiert, er werde nichts entdecken, denn die wahre Contrebande „hab ich im Kopfe stecken“. Darin, ein paar Verse weiter auch die vom mitreisenden Passagier, der über die Verbindung des zersplitterten Vaterlands und die Begründung deutscher Einheit schwadroniert, einer äußeren, materiellen Einheit, geschaffen durch den Zoll; und einer geistigen, inneren Einheit – so heißt es weiter – geschaffen durch Zensur: Einheit im Tun, im Denken und Sinnen; ein einiges Deutschland tue not, einig nach außen und innen. Einig, vereint, vereinheitlicht, uniform: eben noch einmal jenes alte, dessen Leichentuch schon längst die Weber weben. Der Dichter Heinrich Heine webt daran mit, auf seine Weise – und: langzeit: ARBEITET. Ich danke Ihnen.

