2015 Dr. Michael Kessler: Mater Fidelium

2015 Dr. Michael Kessler: Mater Fidelium

150 150 Petra Pfirmann

 

Dr. Michael Kessler
Bildgedanken zu Petra Pfirmanns MaDonnenBildern.

Zur Eröffnung der Ausstellung Petra Pfirmann. Mater Fidelium. MaDonnenBilder.

23. Oktober 2015 im Kloster Heiligkreuztal.

 In der beinahe noch druckfeuchten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom letzten Sonntag ist ein großes Bild zu sehen: Auf einem Sofa zwei Frauen, die eine mit Baby im Arm, die andere mit zwei Hunden; die Unterschrift – verkürzt – lautet: „Branka L. (rechts) mit Tochter Vanessa, Enkeltochter und den beiden Möpsen Leo und Romeo“. Die Artikelüberschrift dazu – als wäre sie für uns heute gemacht, meine Damen und Herren, ich grüße Sie – lautet wie folgt, groß und fett: „Sie geben uns Liebe“.[1] Seit sieben Jahren, so erfährt man, gebe es im Leben von Branka L. keinen Tag ohne Leo. Er schlafe in ihrem Bett, begrüße sie morgens beim Aufwachen, sie frühstücken miteinander, machen einen Spaziergang und halten mittags Siesta; dabei legt ihr der Hund die Pfote auf die Schulter – es bleiben Kratzspuren. Er geht mit ihr ins Bad, sitzt beim Kochen neben ihr, begleitet sie auf den Balkon, und ersetzt ihr den Freund. „Er ist für mich Ersatz. Als Kind, als Mann, als alles. Er gibt mir Liebe.“ Auch ihre Tochter Vanessa hat einen; im rechten Arm hält sie ihr Baby, mit der Linken krault sie ihn. Der sei ein Familienmitglied. Wenn er schnarche, was Möpse gern tun, sei das eher beruhigend. „Ich weiß, mein Hund liegt neben mir, und es geht ihm gut. Das ist genauso, wie wenn ich mein Kind atmen höre.“ Tierhaltung heute scheint so etwas zu sein wie eine Krisenintervention. Der Partner geht, die Kinder ziehen aus, was kommt und bleibt, ist der Hund. Der Hund – oder vielleicht auch, aber seltener, ein anderes Tier, als Sozialpartner und Partnersatz in einem. Was das Zeitungsfoto und seine Legenden zeigen und sagen, ist Realität. Dass man die nicht bloß fotografieren, sondern auch malen kann, zeigen unter anderem auch, aber eben nur auch die 18 Pfirmann-konopka-MaDonnen-Bilder in unserer Ausstellung. Liebe Petra, ich grüße dich.

Der Hund also, egal, wie schön, wie hässlich, wie gewöhnlich oder außergewöhnlich – als Sozialpartner, als Partnerersatz und Projektionstableau. Der wehrt sich nicht,  gibt also eine ideale Projektionsfläche ab, und er redet nicht. Lieb ist er sowieso, jedenfalls meistens, oder mehr als meistens. Und treu ist er auch noch. Was will man mehr? Natürlich – man will immer mehr. Ein Symbol soll er halt auch noch sein, der Hund. Ein Symbol wofür? Natürlich für Liebe und Treue, wie bei den Pfirmann/konopka-Bildern. Für Liebe und Treue: also für alles, was fehlt. Oder taugt er gar zum Symbol im Symbol? Dann könnte er womöglich zusammen passen mit dem Archetypischen. Mit dem Archetyp Madonna, mit dem sich die zentrale christliche Message verbunden hat: eben die von der Liebe und Treue, von Barmherzigkeit und Hilfe, von Unserer Lieben Frau. Liebe in der bekannten Assoziationskette Mutter – Trick der Natur – neun Monate Leben tragen – Melange aus Glück, Schmerz, Leiden, Bindung und Treue zum Kind – schwere Phasen des Loslassens – Vorbereitung auf den Tod, und so weiter. Und dazu und daneben das Unglaubliche – Jungfrauengeburt und solche Sachen: Gottessohn – Heiliger Geist und kein Mann – Auszeichnung und Diskriminierung – Zweifel im Kopf. Das Unglaubliche und das Unsägliche: Verachtung, Verspottung, Verfolgung, Folter, Hinrichtung, Tod, Scheitern. Und nicht nur der eigene Sohn zu beklagen, auch noch Mutter der Gläubigen werden, Fürsprecherin, Nothelferin, neue Eva, weiß Gott, was noch alles. Plausibles und Rätselhaftes mit- und in- und durcheinander. Wie soll das bloß zusammen passen?

Damit ringt und befasst sich auch unsere MaDonnenMalerin Petra Pfirmann, die Polinnenschinderin aus Esslingen vom Jahrgang 1962 samt ihrem Alter Ego evelyn O. konopka und ihren diversen Models. Aber natürlich nicht auf der Ebene von Traktat und Dogma. Vielleicht hier nun aber erst mal etwas, um das konopka-Rätsel zu lösen:

Sie sei Polin, wohne in einem Gartenhaus im hintersten Masuren, erfahren wir. Mittleren Alters habe sie der Welt des Glamour und des Glitzers den Rücken gekehrt und versuche, sich vom bewegten Leben ihrer früheren Tage zu erholen. Sie sei sehr scheu und meide Menschen und Veranstaltungen, wo sie könne. Ihre Bilder male sie unter einfachsten Bedingungen. Stanislav, ein treuer Freund aus dem Dorf, versorge sie mit dem Nötigsten und sorge dafür, dass ihre Werke mit dem täglichen Fernlastverkehr von Polen nach Stuttgart(-Wangen) gelangen. Ich (nun also = Petra Pfirmann) lernte eveline vor 20 Jahren auf Malta kennen. Sie hat mich gebeten, sie zu unterstützen. eveline O. konopka braucht dringend psychotherapeutische Behandlung und Ölfarben. Sie ist scheu. Wie die Tiere, die sie malt. Manchmal huscht sie nachts durch ihren Garten und leuchtet mit der Taschenlampe ins Gebüsch: wieder ein Lemur, ein Fuchskusu, ein Flughund, eine Kängurumaus, eine Babyschleiereule. Sie nennt ihre erste Serie, die 2009 in Esslingen zu sehen war, “neardeathstudies“…. Die Arbeit mit Konopka begann ich 2008. Ich realisierte Einzelausstellungen für sie in meinen Räumlichkeiten, in München in der concrete gallery von mike uitz, Sammelausstellungen in den Galerien der Stadt Esslingen. Schließlich gab ich ihr die Möglichkeit, sich mit ihren Motiven sogar in meiner Kunst (“togethers“) zu formulieren. Nach Vorbild alter Traditionen malte sie ihre Figuren in meine eher informell angelegten Werke. Die Öffentlichkeit war interessiert, die Presse geneigt. Trotz widriger Umstände, logistischer Probleme und trotz beständiger Unsicherheiten wegen ihrer knappen Ressourcen und labilen psychischen Verfassung dauert unsere Zusammenarbeit bis jetzt an. Ihre Kunst ist ein Wirtschaftsflüchtling. Sie selbst ist zu schwach dazu und vegetiert, manchmal nur mit dem Wodka ihres Freundes Stanislav aus dem Dorf, weiter. Die Ölfarben spendiere ich. Stanislav hat mittlerweile eine facebooksite für sie eingerichtet. Zur Zeit malt sie Marienbilder.

Die Identitäten – hier Pfirmann, da konopka und umgekehrt – changieren, gehen ineinander über, vertauschen sich. Plötzlich erfährt man Biografisches und Lebensumständliches der Künstlerin aus ihrer Projektion, und davon, dass es ihr wie dieser recht ‚beschissen’ geht – wenn man so sagen darf. Auch das gehört dazu.

“neardeathstudies“ hieß eine erste Bilderserie der konopka – Nahtodstudien; vielleicht hätte man auch von “nightmares“ sprechen können und von Phantomen, Chimären, Mischwesen, Gestalten der Anderswelten, Monstern. Letztere, unter dem Genderaspekt – man denke an den Hl. Antonius und seine Versuchungen und Versucher – wohl freilich eher eine Männerdomäne, zumal die unter ‚Möpsen’ noch ganz anderen, aber vielleicht ebenfalls albtraumhaften Obessionen zu erliegen Gefahr zu laufen pflegen. Aber sei’s drum. Zurück zur Pfirmann. Die konopka, so erklärt sie, „ist ein Label von mir, Pseudonym, Alter Ego“. Und das malt nun Marienbilder. Also Madonnen. Da muss ich ein bisschen abschweifen. Abschweifen und ausholen. Madonnen, also ein bestimmter Typus von Marienbild; Mutter mit Kind, mal unten, mal oben – wie auch immer. Nun gilt die Maria als Mater fidelium – Mutter der Gläubigen,  eigentlich der Treuen; das ist ein Ehrenname Mariens von vielen. Maria von Nazareth, die Mutter Jesu – im  Christentum selbst das Urbild der Treue; daher – sei’s Pietät, sei’s Überhebung – auch Urbild der Kirche. Die Zahl der Titel, Bilder, Wunder Mariens ist da Legion. Auch das Judentum kennt sie neuerdings, in zurückhaltender Annäherung, als Mirjam.[2] Seit den Anfängen der Christenheit rankt sich um sie ein Kranz der Legenden und Überlieferungen. Und selbst im Koran kommt sie vor, als Maryam – als einzige namentlich erwähnte Frau, Prophetenmutter und, man höre und staune, Vorbild für die gläubigen Muslime.[3] An zahllosen Wallfahrtsorten wird sie bei uns verehrt und angerufen, permanent, bis heute, und das nicht bloß im Mai oder wie jetzt im Oktober: Maria ist immer und überall, resümierte ein etwas reißerischer Buchtitel vor ein paar Jahren.[4] Maria sei der häufigste Gegenstand der christlichen Kunst überhaupt, heißt es im einschlägigen Handbuch.[5] Aber das reicht noch nicht. Denn nicht nur die Bilder, nicht nur Kirchen und Kapellen, sondern auch Fluren, Orte, ja ganze Länder tragen ihren Namen. Alles Zeugnisse eminenter Verehrung aus Geschichte und Gegenwart. Selbst in Martin Luthers Haus in Wittenberg gab es offenbar – man denke! – ein Marienbild, ein Bild der Mutter mit dem Jesuskind. Er habe sie geschätzt als Beispiel menschlicher Demut und Reinheit, was ihn aber nicht hinderte, bestimmte fromme Ideen wie die von Maria als Himmelskönigin und ihrer Rolle als Mittlerin scharf zu kritisieren. Heute sehen manche, zumal im Kontext feministischer Theologie, in Maria so etwas wie die geheime Göttin des Christentums.[6] Dies u.a. auch deshalb, weil in einer sich ständig intensivierenden, zunehmend auch kultischen Verehrung Mariens als Mutter Gottes sich Anzeichen eine Verschmelzung „mit Zügen des Kults um die Magna Mater bzw. um Muttergottheiten (Semiramis, Ištar, Isis, Artemis/Diana, Demeter/Ceres, Aphrodite/Venus etc.)“[7] beobachten lassen. Daher lehnen andere jegliche Marienverehrung strikt ab – wegen der Gefahr der Vergottung und des Götzendienstes. So zumal, wenn auch inzwischen weniger vehement, im Raum des Protestantismus. Nicht so hingegen im Raum der Orthodoxie und der Catholica; da blühen Titel und Verehrung gleichermaßen und seit eh und je. So gibt es etwa im Fränkischen ein Madonnenländchen.[8] Seit der Schlacht von Lepanto (1571) gibt es, alliterierend zu Loretto, die sie preisende Lauretanische Litanei aus uraltem Stoff. Und den Bayern gilt die Maria/Muttergottes als Patrona Bavariae; bei den Polen hieß sie gar Regina Poloniae. Tatsächlich ist gerade Polen bis heute so etwas wie eine europäische Enklave des Marienkultes und der Marienverehrung – in alle Richtungen.

Kein Wunder daher wohl, dass auch die eveline O. konpoka, dieses Alter Ego der Pfirmann, dieser Polinnenschinderin, sich damit befasst. Und wie! So schreibt sie (die Pfirmann) ihren ‚Marien’ – will sagen ihren models – wie folgt:

„Das Projekt ist eine große Herausforderung für mich. Künstlerisch, handwerklich, menschlich und auch spirituell. Schwerstarbeit, den Porträtvorlagen gerecht zu werden. Es geht um Liebe. Natürlich. Maria und Jesus. Die reinste Liebe, die wir uns vorstellen können: Mutterliebe. Nun und dann die Hunde. Ist die Liebe auch so groß? Aber ja. Und dann ich: Kann ich dem Vertrauen von euch gerecht werden? Die Augen werden schlechter … und so weiter …Zweifel und die Überzeugung, ein gutes Projekt zu haben – eine Ehekrise nach der anderen. Ihr lieben Marien, solange ich euch male, nehmt mich in euren Gebeten mit, das wird helfen.“ Und weiter: „Konopka und ich pinseln jetzt gegen die Zeit. Heute ist der letzte Hund zum Leben erweckt worden und jetzt geht’s an Hintergründe und den Faltenwurf der Kleider. Dann noch mal die Gesichter und die Hände und dann noch mal jeder einzeln. Habe ne Sehnenscheideentzündung, wie uncool. – Ich stelle mir grad vor, wie’s 1520 war: Der König wird porträtiert und kriegt alle paar Tage einer Mail von AD oder so, wie der Stand ist.“

So weit O-Töne der Pfirmann. Dazu dann hier, als Beleg, die 18 ausgestellten Gemälde der (virtuellen) Polin eveline O. konopka. Madonnen – Bilder männlicher und weiblicher models – mit, vorsichtig ausgedrückt, Assistenzfiguren aus dem Reich der Tiere. Ist diese konopka vielleicht so etwas wie eine  madonnara? – eine jener versiert-agilen Devotional-Straßenmalerinnen, deren Bilder auch um die Wallfahrtsorte kreisen. Die konopka vielleicht. Vielleicht aber auch, um den Spieß umzudrehen, ihr Alter Ego – die  Esslinger Künstlerin Petra Pfirmann – die ihren Namen als Pseudonym gebraucht und zum Label profiliert. Warum wohl? Weil sie auf diese Weise Themen, Stoffe, Motive, Bildtypen kreieren und variieren oder paraphrasieren kann, ohne befürchten zu müssen, gleich dafür in Haft  genommen zu werden. So verhält es sich auch bei ihren MaDonnenBildern, die zwar kaum echte Marien-, aber doch ständig Madonnen-Typen mit ganz ungewohnten Attributen zeigen: Mal den Mops, von dem es auch heißt, dass er fidel sei – also lustig und treu, oder überhaupt Hunde und andere Tiere – als Liebes- und Treue-Symbole par excellence eben. Eine Serie von in altmeisterlich-penibler Manier gemalten MaDonnenBildern, changierend zwischen Konterfei, Porträt, Imitat, Plagiat, zwischen Läster- und Gnadenbild. Bilder, die auch etwas Experimentelles haben; Versuche und Versuchungen.

Wie damit umzugehen, zu verfahren sein könnte, mögen drei Autoren der Gegenwart, jeweils am geeigneten Objekt, uns nahe bringen. Dafür noch einmal zurück zum Bildtypus oder zum Genre. Marien – Madonnen – MaDonnen. Unsere liebe Frau – unsere lieben Frauen. Tatsächlich gibt es eine Flut der Titel und, wie schon erwähnt und was vielleicht dasselbe ist, eine Flut der Bilder. Mitunter – zumal in der orthodoxen Ikonenmalerei – wird der Evangelist Lukas, der im Heiligenkalender auch bei uns als Patron der Maler gilt, geradezu als Porträtist der Maria verehrt. Letzteres so sehr, dass ihm sogar konkrete Bildnisse zugeschrieben werden. Und dies nicht nur in Byzanz oder in Moskau, sondern auch in Rom.

So etwa das der – vermutlich spätantiken Holztafel – der Maria Advocata aus dem römischen Kloster Santa Maria del Rosario, der Rosenkranzkirche. Der muslimische Schriftsteller Navid Kermani, der eben erst vor ein paar Tagen in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, hat sie dort gesehen und zu dem Bild notiert: Erhalten geblieben ist nur das Gesicht Mariens in den erstaunlichsten Farben, der Ansatz ihres Schleiers, zwei vergoldete Hände, die zu einem Weg weisen, aber auch Abwehr signalisieren könnten, sowie das Kreuz auf der Höhe ihres Herzens, ansonsten nichts als ihr Umriß. Und natürlich der goldene Grund! In der Sprache der Ikonenmaler werde er ‚Licht’ genannt …, weil das Gold die Heiligen wie das himmlische Licht umfange. Es gibt keine einseitige Beleuchtung, keine gedachte Lichtquelle, sondern die Farben selbst sind licht, und am lichtesten das Gold. Weil sich [sein – Kermanis katholischer] Freund zu einem Rosenkranz zurückzog, hatte ich Zeit mit der Jungfrau. Wieso nenne ich sie überhaupt Jungfrau wenn ich nicht an die Mutterschaft Gottes glaube? Ein Wort: Getroffensein, Gott hat sie getroffen. Das ist Gnade und Qual, das verleiht Flügel und schmettert nieder, das streichelt und ist ein Hammerschlag. Macht alles verlieren und Gott genügen. Und dann sieht Kermani sich angeschaut vom Bild, von der Maria, von ihren großen braunen Augenals hätte der viel kleinere Mund anfangs noch wie der Mystiker Halladsch gerufen: Rettet mich, Leute, rettet mich vor Gott. Übrigens sei sie mit dem dünnen, wie durchgedrückten Nasenbein und den großen, beinahe runden Wangen … sehr schön; nicht eine römische Hure wie bei Caravaggio oder eine französische Gräfin wie bei Raffael, sondern eindeutig orientalisch. Sehr schön und ganz rein. Nur Maria (so heißt es bei Kermani weiter) halten sich die Katholiken rein, und das begreife ich so gut. Sie malen Madonnen, um sich zu trösten, weil es ohne Trost nicht geht, malen Bilder eines makellosen Gesichts.[9] Ein makelloses, ein ‚gereinigtes’ Gesicht.

Bilder, um sich zu trösten. Auch das ‚Rettet mich vor Gott’ hat etwas Tröstliches. Etwas Tröstliches und etwas Trotziges. Also etwas menschlich Bleibendes, trotz allen Getroffenseins. Unsere Madonnen von heute, aus den Magazinen und in ihren postmodernen Surroundings, mögen es vielleicht schwerer haben ohne Glauben, ohne Kirche, ohne Religion. Schwerer und leichter mit dem jederzeit möglichen Griff zum Para- und Ersatzreligiösen oder in die wohlfeile Wundertüte von Accessoires aus allen Weltreligionen samt ihren meditativen und sonstigen Praktiken. Aber auch da gibt’s unterm Strich nicht immer Tröstliches, geschweige denn viel Liebliches. Die Sadismen der alles wollenden, alles gebenden Mütter, ihre gratiösen Grausamkeiten, ihr Mobbing, ihr Bloß-noch-um-sich-Schlagen in den Kitas und an den runden Tischen verbissener Korrektheit lehren es fürchten. Die konopka/Pfirmann-Madonnen und ihre vierbeinigen Seelenbegleiter hingegen nicht. Die Künstlerin spricht von einer „tollen Vision“.

Noch einmal: Marien und Madonnen. Bei anderen Gegenwartsautoren finden sich dafür Erinnerungen an eine frühere Zeit, die noch gar nicht so lange her ist. Eine Zeit, in der „der Rosenkranz, die Lauretanische Litanei und das Gebet vor einem Marienbild noch in das Leben der Leute eingewoben waren“.[10] Das Gebet vor einem Marienbild. Davon ist – um ein weiteres Beispiel anzuführen – auch die Rede in Martin Walsers Novelle Mein Jenseits aus dem Jahr 2010.[11] Da wird, wie auch im darauf folgenden Roman Walsers, an eine Begegnung seines Protagonisten mit Caravaggios Madonna dei Pellegrini in der römischen Kirche San Agostino erinnert. Ob es der von Kermani erwähnte Caravaggio ist, mag dahingestellt bleiben. Die Pilgermadonna also. Schmutzgeschwärzt vom Wallen durch den Staub seien auf dem Bild die Füße der Pilger – genau in Augenhöhe des Betrachters; wie tanzend dagegen die Marias nur wenig darüber. Und dann weiter, nun O-Ton Walser: Aber oben das Gesicht, das trotz seiner enormen Schönheit nur dazu da ist, samt Kind hinunterzuschauen zu den Anbetenden. Dem Kind hat der Maler in die kleine Hand die Geste einer bedeutenden Teilnahme hineingemalt. Das alles zusammenzubringen war immer die vom Bild gestellte Aufgabe, wenn ich die Basilika verließ … Armes Paar, tolle Dame. Stimmt nicht. Arm ist das Paar nicht. Die strahlen eine Gebetskraft aus, die sie der Dame Madonna ebenbürtig macht. Woher die ihren Jesus hat, wagt man nicht zu denken. Allein die Schönheit zählt. Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst du es gleich vergessen.

Welches Jenseits? Nun seines, das des Protagonisten. Vielleicht das des Autors, dem es nicht um Imitation zu tun ist, sondern um Ebenbürtigkeit. Es gibt so etwas wie den herabsteigenden Glanz aus der Höhe; von dessen Besuch singt ja sogar das Magnificat. Und der ist nur dafür da. Fürs Hinunterschauen, für bedeutende Teilnahme. Dafür, dass etwas schön ist, schön sein kann. Etwas, das im Aufblick begegnet, nicht sich entzieht. Ein auf uns zukommendes Jenseits. Auch so etwas findet sich in den MaDonnenBildern der Pfirmann/konopka. Die MaDonnen der Künstlerin(nen) haben, so sagte ich vorhin, auch etwas Experimentelles, haben den Charakter von Versuchen und Versuchungen. Das berührt sich, wie sich gleich zeigen wird, auch mit dem nächsten Text. Versuche und Versuchungen – für die Malerin(nen) und für ihre models. Ist es nicht merkwürdig, dass die jemand – egal ob Mann oder Frau – in ein rotes Kleid stecken können, ein rotes oder ein blaues – was soll’s – und schon ist sie da, die Madonna, der Typus, der Archetyp: ihre/unsere Liebe Frau. Die models, Männer und Frauen wie du und ich oder noch schlimmer, werden da auf einmal, sozusagen schlagartig, heilig; gleichsam in einer Art bildnerischer Transsubstantiation. Sie halten ihre Tiere im Arm wie Preziosen und ohne zu meckern und sind durch die Bank – und nicht etwa komödiantenhaft – sondern ganz ernst dabei, interessiert, begeistert, aufgeregt – ein toller feed back, und alles andere als eine Lachnummer.

Wie angesagt ein dritter Text. Der Tübinger Komparatist, mein Freund Jürgen Wertheimer hat 2009 unter dem Titel Als Maria Gott erfand einen Marienroman publiziert; einen Roman, wie der Klappentext verrät, mit vielen theologischen Untiefen und wohlfeilen anti-kirchlichen Spitzfindigkeiten.[12] Noch die Widmung – Benedicto et amicis – ist ja eine solche: dem Papst und den Freunden; dass es nicht Konsorten heißt, nimmt man dankbar zur Kenntnis. Darauf brauchen wir hier nicht weiter einzugehen. Aber interessant sind einige Bemerkungen des Autors in einem Interview. Was ihn interessiere, sei letztlich eben nicht der Papst, sondern Maria. Die habe ihn inspiriert. Ausgerechnet Maria? Nun, ich kenne sie halt von Kind an, bin mit ihr sozusagen aufgewachsen. Sie ist eine wunderbare Phantasiefigur; und wie bei allen Phantasiefiguren kann, darf und soll man mit ihr spielen und ihre Geschichten weiterspinnen, sie immer wieder neu erfinden, sonst bleibt sie immer so klein und demütig und lieblich [zeigt auf ‚seine’ Madonna, die aus einem Souvenirladen in Neapel stammt]. Maria hat doch auch das Recht darauf, ernst genommen zu werden, eine eigene Geschichte zu haben, ein eigenes Leben, auch wenn sie nur aus Texten über Texte über Texte besteht.[13]

Eine wunderbare Phantasiefigur, mit der man spielen kann, soll und darf. Auch wenn sie – bloß, ist man versucht, zu sagen – aus Texten über Texte über Texte hervortritt, und, natürlich, wie bei den Pfirmann/konopka-Madonnen,  auch aus Bildern über Bilder über Bilder. Daraus ist er schließlich gewoben, der Stoff der Legenden, der Mythen, der Religions-Geschichten, der Stoff ihrer Gestaltungen und Gestalten. Daraus entsteht, um es auf einen strikten Nenner zu bringen, so etwas wie Jenseits. Ein Jenseits, zu dem wir auch Kunst sagen können. Sie fallen nicht einfach vom Himmel, die Geschichten: nicht in der Bibel, nicht im Koran, nicht in anderen religiösen Schriften der Menschheit und nicht einmal in der Religions- oder Kirchengeschichte. Sie fallen jemandem ein. Immer wieder, und immer wieder neu. So wie der konopka ihre Bilder. Der konopka und der Pfirmann. Die Rätsel, die diese Geschichten, diese Erzählungen, auch diese Bilder uns aufgeben, mögen unlösbar bleiben. Aber sie generieren Lösungsversuche und eröffnen Horizonte – trotz allem. Die mögen überspannt sein, müssen es vielleicht sogar, damit sie weit genug gespannt, also offen bleiben.

Der Philosoph Ernst Bloch – ein Tübinger Lehrer, den man nicht vergisst – sprach von dem zwar zu berichtigenden, aber eben noch unabgegoltenen Problem solch ungeheurer Flügelbildungen der Menschheit, und meinte mit ‚Menschheit’ wohl nicht nur die Gattung, sondern etwas Qualitatives: nämlich den variierenden Phantasie-Fundus der Religionen als der Versuchungen des utopischen Totum. Man sieht unschwer, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Versuchungen und Versuchen. Geben muss. Versuche ohne Versuchungen gibt es wohl bloß im Labor, oder vielleicht nicht einmal da. Aber ansonsten, und da, wo’s drauf ankommt, ist beides ineinander verwoben und verstrickt. Tatsächlich sei nämlich, so Bloch, die religiöse Phantasie keinesfalls in toto durch die … Entzauberung des Weltbilds zu erledigen. Vielmehr gelte es, dem letzthinnigen Intentionsgehalt dieser Phantasie gerecht zu werden. Denn mitten in allem lebte und erhebt sich dies Seufzen, Beschwören, Predigen ins Morgenrot; und noch mitten in dem Unsinn an Mythischem lebte und erhebt sich die unabgegoltene, nur in Religionen glühend gewesene Sinnfrage nach dem unausgemachten – Sinn des Lebens. Diese erhebe und exzitiere erst echten Realismus.[14] Flügelbildungen der Menschheit als Versuche und Versuchung, in denen, durch die das ins Spiel kommt, was nicht ist – noch nicht. Es scheint, als ob es das bräuchte, um in dem, was ist, aushalten, ausharren zu können. Darüber nachzudenken, dafür Neues zu wagen, zu sagen, zu gestalten ist nicht unfromm oder blasphemisch, sondern geboten. Immer wieder. Mögen es Phantasiefiguren sein und bleiben. Stets sind es Figuren, an die sich etwas heftet, an denen uns etwas aufgeht: etwas Nahhinzielendes, um noch eine Formel Blochs zu gebrauchen.  Das ist das, was glüht in den Religionen, auch wenn deren Glut nicht selten Sengendes und Brennendes mit sich bringt und dann schwer zu löschen, also gefährlich ist. Vielleicht kann, vielleicht darf und muss es daher auch anderswo gesucht, bewahrt und behütet werden. In Phantasie-Figuren, in Phantasie-Geschichten, in Phantasie-Bildern. Das ist, daraus entsteht, das schafft – Kunst. Ich danke Ihnen.

[1] Vgl. Julia Schaaf, „Sie geben uns Liebe. Nagellack auf Pudelkrallen, Yoga für Rottweiler: Immer häufiger sind Hunde Bezugspersonen oder gleich Kinderersatz. Was sagt das aus über unsere Gesellschaft?“, in: Frankfurter Allgemeines Sonntagszeitung Nr. 42, 18. Oktober 2015, S. 11f.

[2] Vgl. Schalom Ben-Chorin: Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht. München (dtv) 1994.

[3] Vgl. Hüsein Ìlker Çinar: Maria und Jesus im Islam. Wiesbaden (Harassowitz) 2007, S. 13ff.

[4] Peter-Michael Spangenberg: Maria ist immer und überall. Die Alltagswelten des spätmittelalterlichen Mirakels. Frankfurt (Suhrkamp) 1987.

[5] Vgl. Art. “Maria/Marienbild”, in: Lexikon der christlichen Ikonographie Bd. 3. Rom-Freiburg-Basel-Wien (Herder) 1971, Sp. 154ff.

[6] Vgl. Christa Mulack: Maria. Die geheime Göttin im Christentum. Stuttgart (Kreuzverlag) 1985.

[7] Vgl. Wolfgang Brückner, „Maria“, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Bd. 14. Berlin-New York (De Gruyter) 2014, S. 1745ff., zit. ebd.

[8] Wolfgang Seidenspinner: Die Erfindung des Madonnenländchens. Die kulturelle Regionalisierung des badischen Frankenlandes zwischen Heimat und Nation. Buchen 2004. – Der Begriff geht auf den Volksschriftsteller Hermann Eris Busse zurück.

[9] Vgl. Navid Kermani: Ungläubigers Staunen. Über das Christentum. München (Verlag C.H.Beck) ²2015, S. 10ff.

[10] Vgl. Franz Siepe: „Katholische Literatur? Marianisch“, in: FAZ Nr. 95, 24. April 2013, S. N 3.

[11] Vgl. Martin Walser: Mein Jenseits. Novelle. Berlin (Berlin University Press) 2010, S. 30ff.; vgl. ders.: Muttersohn. Roman. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2011, S. 295-297.

[12] Vgl. Jürgen Wertheimer: Als Maria Gott erfand. Roman. München und Zürich (Pendo) 2009.

[13] Vgl. „Totschweigen ist die Höchststrafe. Jürgen Wertheimer zu seiner neuen Rolle als Romanautor und wie er mit den Reaktionen auf sein ‚Maria’-Buch umgeht“, in: Schwäbisches Tagblatt, 24. April 2009, S. 25.

[14] Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt (Suhrkamp) 1959, S. 1416f.