EZ 18.11.2011
Vernetzt, zerfasert
Und jetzt noch einmal: „switch“-Rückblick auf vier Monate Experimente rund um Kunst im Esslinger Bahnwärterhaus
Von Elke Eberle
Esslingen – Ein Raum, der sich selbst erklärt, Nackedeien und Soldaten aus Seife, puristische Schalen, dünn wie eine Haut, Menschen, die bedächtig und schweigend ihre eigene Suppe auslöffeln, Relikte eines Duftexperimentes: Kunterbunt ist die Ausstellung „switch on!“ im Bahnwärterhaus. Vier Monate lang hatten 70 Künstler, Esslinger und ihre Gäste, das Bahnwärterhaus zu einer, zu ihrer Bühne gemacht. Jetzt ist ein Rückblick auf jene spannende Zeit zu sehen und zu hören. Gezeigt wird die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Und der Wille, die Welt zu bewegen und sei es vielleicht manchmal auch nur im Kleinen.
Blickwechsel
Insgesamt 25 Projekte wurden zwischen Oktober 2010 und Januar 2011 im Bahnwärterhaus realisiert, die Initiative des Großprojektes ging aus von dem Verein „artgerechte Haltung Bildende Künstler Esslingen“. Der Begriff „switch“ steht für die Möglichkeit mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die Weichen neu zu stellen, Blickwinkel zu wechseln, Bezugspunkte zu verändern, ohne Konventionen und Grenzen Dinge neu zu denken. Im Mittelpunkt standen das Miteinander der Künstler aus unterschiedlichen Sparten, das Entwickeln im kreativen Prozess, die Rezeption und Vermittlung. Der Rückblick ist äußerst komprimiert, und nicht alles lässt sich bis ins Detail rekonstruieren; das schadet aber nicht wirklich. Die Fragen und Arbeiten waren äußerst komplex, facettenreich und manche von ihnen auch einfach einmalig.
Angefangen hat alles am Tag der Deutschen Einheit im Jahr 2010. In der „Polyloge“ wurden Bildhauermaterialien wie Sägeblätter und Glashörner Zutaten zu einer Klang- und Bewegungsinstallation über alle drei Stockwerke des Bahnwärterhauses hinweg. Elf Akteure um Helga Kellerer standen im Zentrum der als Versuchsanordnung konzipierten Aktion, doch jeder konnte mittendrin teilhaben oder auch nur aus der Ferne beobachten. Tanz und Bewegung, Klang und Raum verschmolzen zu einem Prozess. Von solchen einmaligen Performances erzählen kleine Fotografien im Obergeschoss, sie haben den Charakter von Projektdokumentationen. Auch vom Duftlabor von Claudia Vogel sind nur Fotografien zu sehen, sie wirken auch ohne ihre Geschichte. Offensichtlich Fremde beschnuppern den Hals einer jungen Frau aus nächster Nähe. Für einen kurzen Moment werden Grenzen überschritten, mit unterschiedlichsten Konsequenzen für die Akteure. Abgrenzung und Ausgrenzung sind auch Thema der „Geschlossenen Gesellschaft“ von Claudia Bohnenstengel und Josefh Delleg. Nicht jedermann war eingeladen zu Suppe, Brot und Wasser, aber zugucken durfte er per Video, ob live oder nicht, blieb dabei unklar. Im Keller ist jetzt eine Aufzeichnung der Essen zu sehen, der doppelte Boden fehlt, doch die Aussage steht für sich. Erschreckend unbeteiligt löffelt jeder seine eigene Suppe aus, im Hintergrund dreht ein Hamster unaufhörlich am Rad.
Andere Künstler zeigen einen Ausschnitt ihrer Arbeit, etwa Bodo Nassal in der Teilansicht seiner Rauminstallation „Tautologischer Raum“. In diesen Zeichnungen spiegeln sich die Elemente des Raumes, und die Zeichnungen selbst, der Raum werden komprimiert und gleichzeitig unendlich.
Macht der Gruppe
Architekturfotografien inszeniert Marc Dittrich immer wieder anders. Dafür hat er Fotografien in lange, dünne Streifen zerschnitten und daraus akkurat neue Architekturen geflochten. Das fragile Fundament der „Netzgemeinde“ sind zerfaserte, unübersichtliche Geflechte.
„Free Willy!“ fordern die lässigen Piussisters Angela Hildebrandt und Petra Pfirmann.
Gegenüber richten Seifensoldaten ihre Maschinengewehre auf seifige Unschuldige. In ihren Miniaturdioramen erzählen Wolfgang Scherieble und Claus Staudt Geschichten von der Macht der Gruppe im Freibad und im Asphaltgebirge. Es gibt viel zu entdecken: ein Hölderlinexperiment, übergänge, ein Buchprojekt, eine mobile Druckwerkstatt, akustische Experimente oder das switchlogmemory.
Die Esslinger Kunstszene ist lebendig, erfrischend experimentierfreudig, mutig und vielseitig, und auch die eher traditionellen Genres bewegen sich selbstbewusst im Strudel immerwährender Veränderung und Erneuerung. „Und jetzt?“ fragten drei Künstlerinnen in ihrer Ausstellung zum Jahreswechsel 2010/2011. Und jetzt geht es hoffentlich immer weiter, hier und dort und vielleicht auch wieder einmal an einem zentralen Ort.


